Omas Warnungen
Read Time:6 Minute, 42 Second

Omas Warnungen

1 0

Der Raum ist düster. Der schwere Vorhang lässt nur einen schmalen Lichtstreifen herein, der den Raum in zwei dunkle Teile zerschneidet. Ein Mann kommt ins Zimmer und blickt sich fragend um. Plötzlich hört er ein Geräusch rechts von sich. Außer einer schemenhaften Bewegung kann er nichts erkennen.

Eine schwarze Katze tritt in den Sonnenstreifen. “Du kommst spät…” Obwohl der Satz kein R enthält, rollen die Worte wie ein Schnurren durch den Raum. “Jack, du wirst nicht glauben, was mir gerade passiert ist.”
Mit lauter Stimme fragt er die Katze: “Henry, bist es du?”
Die Katze schaut ihn traurig an und nickt tonlos. “Du hast wohl nicht damit gerechnet mich nochmals wieder zu sehen.” Der schnurrende Unterton hat einem Pfauchen Platz gemacht. “Dass dich mein Anblick so erschreckt, bestätigt meine schlimmsten Vermutungen.”
Jack schaut die Katze ratlos an. “Was meinst du damit?” Die Katze antwortet nicht. Jack wird ungeduldig. “Was meinst du damit?” fragt er noch einmal. Er versteht nichts mehr. Wie ist Henry, sein bester Freund, zu einer Katze geworden?

“Für dich ist wohl alles ein Spiel. Immer. Du weißt nicht, wann genug ist!” Henry trottet durch den Raum und springt auf ein Regalbrett, was ihn auf Augenhöhe mit Jack bringt. “Was das Bannsiegel ist, weißt du noch. Oder bist du auf einmal auch in dieser Hinsicht ahnungslos?”
Jack antwortet verblüfft: “Ich weiß wirklich nicht, was das ist. Das Letzte, an das ich mich erinnern kann, ist, dass ich ganz normal schlafen gegangen bin. Dann wache ich auf und befinde mich in diesem Haus. Was geschieht hier eigentlich?”
“Du solltest weniger Fragen stellen und mehr Antworten geben!” faucht Henry.
“Erzähl’ doch du mir, was geschehen ist.” sagt Jack verblüfft.

Henry entspannt sich etwas. “Wir haben uns auf den Heimweg gemacht, von Sam’s Abschlussparty.”
Ein zögerliches Nicken von Jack signalisiert Zustimmung.
“Wir haben das Auto stehen gelassen. Du hast dann vorgeschlagen, dass wir durch den alten Friedhof gehen. Dann hast du mir diese Geschichte aus deiner Kindheit erzählt. Von dem Häuschen, in dem die Knochen aufbewahrt werden.”
In Jack’s Kopf macht es klick. “Ja, das Knochenhaus. Vor dem hatte ich immer Angst…”
“Und, kannst du dich jetzt erinnern?” Keine Reaktion. “Wie du beweisen wolltest, dass du jetzt keine Angst mehr hast?”
“Da war ich vermutlich komplett betrunken nach der Party.” antwortet Jack mit einem Kopfschütteln. “Selbst jetzt wo wir darüber reden, bekomme ich eine Gänsehaut. Was habe ich getan? Und das nach all den Gruselgeschichten von Oma und ihren Warnungen vor den Folgen.” Der Nebel in Jack’s Kopf scheint sich etwas zu heben. “Ich bin ins Häuschen gegangen. Als ich drinnen war, habe ich nichts Außergewöhnliches gefunden. Also bin ich wieder raus. Du warst verschwunden. Ich dachte mir, dass du sicher schon nach Hause bist und deswegen bin ich dann auch heim. Dann habe ich mich schlafen gelegt – und wache plötzlich in diesem Raum auf.” Er deutet hinter sich in das Nachbarzimmer. “Wo wir das jetzt geklärt haben, will ich aber noch wissen, was ein Bannsiegel sein soll.”

Henry ist ehrlich verblüfft. “Du weißt es wirklich nicht, oder?” Er starrt ist an. “Du bist nicht nur in das Haus rein. Du wolltest auch wissen, was in der großen Kiste ist. Der Deckel war irgendwie festgeklebt aber du warst richtiggehend fixiert darauf, dieses Ding zu öffnen. Du hast mit einem Stein darauf eingeschlagen. Das war mir zu viel, ich wollte dich weg ziehen, gerade als der Deckel gebrochen ist.” Henry’s Blick geht an Jack vorbei ins Leere. “Deswegen habe ich es abbekommen.”
“Um Gottes Willen, was habe ich mir dabei gedacht? Oma hat mir so oft eingebläut, dass man auf keinen Fall mit den Knochen in der Kiste in Berührung kommen darf. Sonst könnten die Eigenschaften und Schicksale der Gestorbenen auf einen übertragen werden.” Eine Idee elektrisiert Jack. “Moment mal! Vielleicht waren da drinnen nicht nur menschliche Gebeine, sonder auch Tierknochen?”

“Hm. Ja, du bist ein Blitzgneißer. Das Gute an der Verwandlung ist, dass man zur neuen Gestalt auch gleich das Wissen mit bekommt.” Henry streckt sich gemütlich am Regal aus und lässt einen Pfote baumeln. “Seit gut 5000 Jahren haben wir Spuren hinterlassen. Ägyptische Götter mit Vogelkopf. Oder hinten Pferd, vorne Mensch, bei den Griechen. Der Fledermausdrakula. Nur Geschichten? Nö – die haben die Menschen aus Angst vor uns Chimären erfunden.”
Jack starrt Henry an “Chimären? Sind das nicht halb Mensch, halb Tierwesen? Aber du…”
“Aber ich bin ganz Katze, willst du sagen?” Herny hebt seine baumelnde Pfote und streckt sie Jack entgegen. “Dann schau mal genauer hin.”
Erst jetzt bemerkt Jack, dass unter dem Fell zwar dunkel gefärbte aber doch eindeutig menschliche Finger hervor schauen.
“Manche behalten mehr menschliche Teile. Bei anderen – wie bei mir – dominiert der Tierkörper. Unser Bewusstsein nehmen wir immer vollständig mit in den neuen Körper. Und nicht nur das.” Er setzt sich wieder auf. “Wir bekommen die Erinnerungen der anderen Chimären. Alle Erinnerungen.” Ein Zittern läuft durch die Katze. “Ich weiß jetzt zum Beispiel, wie es ist, wenn man mit einem Krokodilmaul einen unvorsichtigen Schakal auffrisst.”

Jack hat Mühe seinen offen stehenden Mund wieder zu schließen. “Und der Minotaurus – der war echt?”
“Interessant, dass das deine offenbar dringlichste Frage ist. Aber ja, der war ‘echt’, wie du es ausrückst. Eingesperrt in einen eigens für ihn gebauten Palast, kein Labyrinth. Frage nicht nach den Opfergaben.”
“Wieso?” Und nach einem Sekundenbruchteil: “Oh, OK.”
“Das Wissen über das Bannsiegel muss ich wohl auch von den Chimären bekommen haben. Das wundert mich, weil es ist in meiner Erinnerung, als hätte ich es als Kind gelernt. Oder immer schon gewusst. Egal.” Er schaut Jack direkt in die Augen. “Seit es uns Chimären gibt, haben die Menschen Angst vor uns. Weil wir stärker sind. Intelligenter sind. Anders sind. Das Bannsiegel ist der Versuch uns los zu werden. Den Flaschengeist wieder in die Flasche zu bekommen.”
“Der Flaschengeist ist auch echt?”
“Nein, Blödsinn. Nur eine Redensart. Jede Kultur entwickelte ihre eigenen Methoden. Das Christentum war nicht besonders kreativ. Sie haben uns gejagt. Wenn sie mal einen erwischt haben, wurden die Überreste in steinerne Kisten gepackt, mit viel heiligem Brimborium. Die ganzen Sprüche sind vollkommen egal. Die steinernen Kisten sind aber eine echt Barriere. Besonders, wenn sie so gut versiegelt ist, wie die im Knochenhaus.”

“Was bedeutet das alles?” Jack findet sich im frisch erworbenen Wissen noch nicht zurecht.
“Für dich? Naja, das hängt ganz von dir ab.” Jack springt vom Regal und verschwindet im Halbdunkel. “Du kannst das alles vergessen, morgen brav zu meiner Beerdigung gehen und ein normales Leben leben.”
“Deiner Beerdigung? Du – du schaust aber sehr munter aus…”
“Mann, Schalte dein Gehirn ein. Herny Sommerfield gibt es nicht mehr. Der ist tot. Und da Menschen heutzutage nicht einfach so verschwinden können, muss er halt offiziell sterben. Traurige Sache. Betrunken, Auto, überhöhte Geschwindigkeit, Brückenpfeiler, bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, du weißt ja, wie das ist.”
“Aber warum bin ich hier?”
“Ja, deine erste gute Frage heute. Weil wir nicht sicher sind, ob du nicht auch etwas abbekommen hast. Schlussendlich standen wir direkt nebeneinander als der Sarkophag gebrochen ist. Offenbar hast du keine Umwandlung erfahren. Und nach unserem Gespräch zu urteilen hast du auch nichts vom Wissen abbekommen. Wir wollen aber keinerlei Risiko eingehen.”
“Wir?”
“Schon vergessen? Chimären haben eine kollektive Erinnerung. Wir. Wir Chimären.” Herny kommt wieder so weit zum Licht, dass Jack seine Umrisse erkennen kann. ” Weißt du, früher wurden solche Situationen anders geregelt. Das mag mit ein Grund sein, warum Menschen nicht so gut auf uns zu sprechen sind. Das ist aber nicht mein Stil.”
“Was für ein Risiko…”
“Wir wollen nicht gejagt werden. Und auf den Götterzirkus stehen wir ehrlich gesagt auch nicht so. Einfach nur in Ruhe gelassen zu werden ist aber erstaunlich schwierig. Sobald Menschen von uns Wind kriegen, entwickeln sie ein – fatales Interesse. Dieses Risiko. Also: Schaffst du es, die Klappe zu halten?”
Jack gefällt die Wendung des Gesprächs nicht. “Oder was?”
“Minotaurus.”

Diese Geschichte entstand aus einem “Schreibtrialog” – drei Personen, die abwechselnd auf einem Notizblock diese Geschichte entstehen haben lassen. Kleine textuelle Anpassungen und die letzten beiden Absätze habe ich post scriptum hinzugefügt um die Lesbarkeit zu verbessern.

Happy
Happy
0 %
Sad
Sad
0 %
Excited
Excited
0 %
Sleepy
Sleepy
0 %
Angry
Angry
0 %
Surprise
Surprise
0 %

Average Rating

5 Star
0%
4 Star
0%
3 Star
0%
2 Star
0%
1 Star
0%

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *

Previous post The Making Of…